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Der Mythos der Mindset-Änderung und warum er nicht für alle funktioniert




eine schwarze Tafel auf der success go get it geschrieben ist mit weißer kreide

1. Dezember, 1. Advent: Hochsaison für Mindset-Versprechen


Es ist der 1. Dezember, der 1. Advent – die Jahreszeit, in der nicht nur Kerzen und Lichter erstrahlen, sondern auch die großen Versprechen von Coaches und Trainer:innen.

Der Jahreswechsel rückt näher, und viele Menschen reflektieren ihr Leben, setzen neue Ziele und hoffen, alte Gewohnheiten endlich loszuwerden.

Genau jetzt erleben Vision Boards und Mindset-Coachings ihre Hochsaison.

Die Botschaften sind klar: „Mit der richtigen Methode kannst du alles erreichen!“ Egal ob sechsstellig im Monat verdienen, die große Liebe finden oder das Traumleben manifestieren – der Schlüssel liegt im „richtigen“ Mindset.


Der verlockende Traum vom perfekten Leben

Die Werbebotschaften malen ein einfaches Bild: Ändere deine Gedanken, ändere dein Leben. Das klingt verlockend und vielversprechend:

  • Jeden Monat ein Vermögen verdienen, ohne viel zu arbeiten.

  • Deinen Traumpartner „manifestieren“.

  • Freiheit, Reichtum und Glück – alles durch die Kraft deines Geistes.

Doch wenn es wirklich so einfach wäre, warum scheitern so viele Menschen daran, diese Versprechen in die Realität umzusetzen? Warum leben nicht längst alle ihr „Traumleben“?


Die Kehrseite der Mindset-Versprechen

Besonders Menschen wie Lisa, eine 35-jährige Marketingmanagerin, die sich leer und ausgebrannt fühlt, sind anfällig für diese Botschaften. Lisa glaubt, dass sie nur etwas wert ist, wenn sie ständig leistet. Sie kämpft mit innerer Leere, Prokrastination und dem Gefühl, festzustecken. Für sie klingt das Mindset-Versprechen wie die perfekte Lösung: endlich raus aus dem Hamsterrad, endlich glücklich und erfüllt.

Doch hier liegt das Problem: Menschen wie Lisa können ihr Mindset oft nicht einfach „umstellen“. Ihre Denkmuster und Verhaltensweisen sind Überlebensstrategien, tief in ihrer Vergangenheit verwurzelt. Es sind Schutzmechanismen, die ihr geholfen haben, schwierige Situationen zu bewältigen. Solche Strukturen lassen sich nicht einfach durch ein Vision Board oder einen Motivationsspruch auflösen.


Warum Mindset-Arbeit nicht für alle gleich funktioniert

Für Menschen mit unsicheren Bindungen, tiefen Ängsten oder Traumata ist Mindset-Arbeit oft komplexer und langwieriger, als Coaches es versprechen. Es braucht Zeit, Geduld und vor allem Verständnis für die zugrunde liegenden Muster.

Die Realität ist: Ja, Mindset-Arbeit kann helfen – aber nicht jeder kann auf Knopfdruck sein Denken ändern oder hat die Kapazität dafür. Und nicht jede Veränderung führt automatisch zum Traumleben, wie es oft dargestellt wird.


Eine Einladung zu einer differenzierten Perspektive

In diesem Artikel möchte ich den Mythos hinter den großen Mindset-Versprechen entlarven und zeigen, wo sie an ihre Grenzen stoßen. Gleichzeitig möchte ich würdigen, was Mindset-Arbeit leisten kann – und wie Menschen wie Lisa realistische Schritte gehen können, um langfristig Veränderungen zu erreichen.


Der Hype um Mindset und Vision Boards: Verlockungen und Grenzen




Frau steht vor einer weißen wand Visionboard von der Wand hängen viele Glühbirnen von der Decke

Die Macht des Unterbewusstseins: Ein Klassiker im Fokus

Dr. Joseph Murphy veröffentlichte 1962 sein bekanntes Werk Die Macht Ihres Unterbewusstseins, in dem er postulierte, dass positive Gedanken und Visualisierungen das eigene Leben transformieren können. Seitdem hat die Neurowissenschaft bedeutende Fortschritte gemacht und bietet heute ein tieferes Verständnis darüber, wie unser Gehirn tatsächlich funktioniert.


Neuronale Netzwerke und die Bildung neuer Pfade

Unser Gehirn besteht aus etwa 100 Milliarden Neuronen, die über Synapsen miteinander kommunizieren und so komplexe Netzwerke bilden. Diese Netzwerke sind nicht statisch; sie verändern sich durch Erfahrungen und Lernen - aus diesem Grund spricht man von neuronaler Plastizität. Wenn wir neue Verhaltensweisen erlernen oder Denkweisen ändern möchten, müssen wir neue neuronale Pfade etablieren.

Stellen Dir eine unberührte Wiese vor. Der erste Gang über diese Wiese hinterlässt kaum sichtbare Spuren. Erst durch wiederholtes Begehen entsteht ein klar erkennbarer Pfad. Ähnlich verhält es sich mit neuronalen Netzwerken: Einmaliges Visualisieren oder positives Denken reicht nicht aus, um stabile neue Verbindungen zu schaffen. Erst durch konsequente und regelmäßige Wiederholung können sich diese neuen Pfade festigen und alte, weniger hilfreiche Muster ersetzen.


Herausforderungen bei Menschen mit traumatischen Erfahrungen

Für Personen mit traumatischen Erlebnissen oder unsicheren Bindungsstilen ist dieser Prozess besonders herausfordernd. Traumata hinterlassen nicht nur psychische, sondern auch physiologische Spuren im Gehirn. Studien zeigen, dass traumatische Erfahrungen die Struktur und Funktion des Gehirns verändern können, insbesondere in Bereichen wie der Amygdala, die für die Verarbeitung von Emotionen zuständig ist.

Diese Veränderungen können dazu führen, dass Betroffene Schwierigkeiten haben, neue, positive Denk- und Verhaltensmuster zu etablieren. Die Fähigkeit, regelmäßig an Mindset-Übungen teilzunehmen, kann durch emotionale Dysregulation beeinträchtigt sein. Zudem können innere Kritikerstimmen, die durch frühere negative Erfahrungen verstärkt wurden, den Prozess der Veränderung sabotieren.


Aktuelle neurowissenschaftliche Erkenntnisse

Moderne Hirnforschung betont die Bedeutung von Kontext und individuellen Unterschieden bei der Bildung neuer neuronaler Netzwerke. Ein universeller Ansatz, der lediglich auf positives Denken und Visualisierung setzt, greift daher oft zu kurz. Es ist entscheidend, die spezifischen Bedürfnisse und Hintergründe des Einzelnen zu berücksichtigen und maßgeschneiderte Strategien zu entwickeln, die sowohl kognitive als auch emotionale Aspekte einbeziehen.


Fazit

Während die Ideen von Dr. Joseph Murphy inspirierend sind, zeigt die heutige Neurowissenschaft, dass nachhaltige Veränderungen im Denken und Verhalten einen ganzheitlichen Ansatz erfordern. Dies schließt regelmäßige Praxis, individuelle Anpassungen und das Verständnis der eigenen neurologischen und psychologischen Voraussetzungen mit ein. Ein tieferes Verständnis der Funktionsweise unseres Gehirns ermöglicht es, realistischere und effektivere Wege zur persönlichen Entwicklung zu beschreiten.


Was Mindset tatsächlich leisten kann: Eine differenzierte Betrachtung




Glühbirne auf einer schwarzen Tafel mit 6 Denkblasen die leer sind

Was bedeutet Mindset?

Mindset beschreibt die Denkweisen, Überzeugungen und Verhaltensmuster, die unsere innere Einstellung prägen. Diese sind das Ergebnis unserer Erziehung, der Einflüsse von Lehrer:innen, Bezugspersonen, unserer Kindheits-Peergroup und auch der Menschen, mit denen wir uns heute umgeben.

Unser Mindset beeinflusst, wie wir die Welt wahrnehmen und auf Herausforderungen reagieren. Es gibt dabei kein „richtig“ oder „falsch“ – vielmehr sind es die Muster, die sich über Jahre hinweg entwickelt haben, oft als Reaktion auf unsere Lebensumstände.


Das Potenzial von Mindset-Arbeit: Warum kleine Schritte wichtig sind

Um das eigene Mindset nachhaltig zu verändern, ist es entscheidend, in realistischen Schritten zu arbeiten. Der Versuch, alles auf einmal zu ändern, überfordert das System und führt oft zu Frustration. Ein positives Beispiel für die Potenziale der Mindset-Arbeit könnte sein, gesündere Gewohnheiten zu etablieren – etwa in der Ernährung oder Bewegung.

Statt sofort alle ungesunden Gewohnheiten zu eliminieren, kann ein erster Schritt sein, nur auf ein einzelnes Element zu verzichten.

Zum Beispiel:

  • Statt Limonade oder Cola ungesüßten Tee oder Wasser mit Zitronen- oder Limettenaroma trinken.

  • Nach und nach den Haushaltszucker durch Alternativen wie Dattelsüße oder Honig ersetzen.

Solche kleinen Veränderungen haben mehrere Vorteile: Sie sind machbar, erfordern wenig Aufwand und setzen keine tiefen emotionalen Blockaden voraus. Dadurch können sie eine Brücke zur langfristigen Veränderung schlagen.


Mindset-Arbeit bei tiefgreifenden Mustern: Grenzen und Herausforderungen

Das Verändern tiefer verwurzelter Muster – wie eines sogenannten „Money-Mindsets“ – ist komplexer. Diese Denkweisen sind oft stark von biografischen Erfahrungen geprägt.

  • Familiengeschichte: Wie wurde in der Familie mit Geld umgegangen? Gab es finanzielle Sicherheit oder Mangel?

  • Kulturelle Prägung: Welche Werte oder Überzeugungen wurden durch die Gesellschaft vermittelt?

  • Traumatische Erlebnisse: War Geld mit Scham, Verlust oder Konflikten verbunden?

Ein „schwaches“ Money-Mindset ist oft kein bloßer Mangel an positivem Denken, sondern das Ergebnis tiefsitzender Überzeugungen und Erlebnisse. Hier kann Mindset-Arbeit allein nicht ausreichen; es braucht eine intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie, die in Coaching oder Therapie erfolgen sollte.


Neurowissenschaftliche Perspektiven: Wie unser Gehirn auf Veränderung reagiert

Die moderne Neurowissenschaft zeigt, dass unser Gehirn plastisch ist – es kann sich verändern und neue neuronale Netzwerke bilden. Doch dieser Prozess erfordert Zeit und Wiederholung.

Ein anschauliches Bild:Stellen wir uns eine unberührte Wiese vor. Der erste Schritt über die Wiese hinterlässt kaum Spuren. Erst durch tägliches Überqueren entsteht ein sichtbarer Pfad. So funktionieren auch neuronale Netzwerke: Wiederholung und Konsistenz sind essenziell, um neue Muster zu etablieren und alte zu schwächen.


Die Realität von Veränderung: Warum es oft nicht so einfach ist

Menschen, die unter dysfunktionalen Bindungsmustern oder traumatischen Erlebnissen leiden, haben oft Schwierigkeiten, diese Regelmäßigkeit aufrechtzuerhalten. Emotionale Dysregulation oder der innere Kritiker können dazu führen, dass sie sich selbst sabotieren:

  • Nach ein paar Wochen Visualisierung oder positiver Affirmationen stellen sie fest, dass sich keine großen Veränderungen zeigen.

  • Der innere Kritiker meldet sich: „Das funktioniert bei anderen, aber nicht bei mir.“

  • Dies verstärkt das Gefühl von Unzulänglichkeit und führt oft dazu, dass die ursprüngliche Motivation verloren geht und es das Selbstwertgefühl schwächt.


Wie Mindset-Arbeit nachhaltig gestaltet werden kann

Um Mindset-Arbeit sinnvoll und nachhaltig zu gestalten, ist es wichtig, auf machbare und alltagsnahe Veränderungen zu setzen:

  1. Kleine Stellschrauben identifizieren: Was ist eine Veränderung, die wenig Aufwand erfordert, aber einen positiven Effekt haben könnte?

    • Beispiel: Die Entscheidung, Treppen statt den Aufzug zu nehmen, ist einfacher umzusetzen als tägliches Joggen.

  2. Regelmäßigkeit fördern: Statt große Ziele sofort zu erreichen, kann man sich auf kleine, wiederholbare Handlungen konzentrieren.

  3. Selbstakzeptanz stärken: Es ist wichtig, realistisch zu bleiben und sich selbst nicht zu überfordern. Veränderungen brauchen Zeit, und Rückschläge sind Teil des Prozesses.


Mindset-Arbeit im Kontext der eigenen Lebensgeschichte

Ein weiterer entscheidender Faktor ist, die eigene Lebensgeschichte mit einzubeziehen. Manche Denkweisen haben sich als Überlebensstrategien etabliert.

Zum Beispiel:

  • Eine Person, die in ihrer Kindheit gelernt hat, dass es sicherer ist, im Hintergrund zu bleiben, wird nicht einfach selbstbewusst in den Vordergrund treten können.

Diese Schutzmechanismen dürfen nicht als „falsch“ angesehen werden, sondern als Teil der eigenen Geschichte, der behutsam verändert werden kann.


Was Mindset leisten kann – und was nicht

Mindset-Arbeit hat ein enormes Potenzial, das Leben zu verbessern. Doch sie ist kein Allheilmittel und darf nicht unabhängig von biografischen, psychologischen und sozialen Aspekten betrachtet werden.

Veränderungen gelingen am besten durch kleine Schritte, regelmäßige Praxis und eine Auseinandersetzung mit den zugrunde liegenden Mustern.

Mit einem realistischen Ansatz kann Mindset-Arbeit dabei helfen, neue, positive Wege zu erschließen – aber sie sollte nie als isolierte Lösung für tiefgreifende Herausforderungen gesehen werden.


Wo Mindset-Arbeit an ihre Grenzen stößt


viele Bäume in einem Wald man sieht aber nur die Stämme

Der Mythos vom „einfachen Loslassen“

„Du musst den Gedanken einfach loslassen“ – ein Satz, der in der Mindset-Coaching-Welt oft zu hören ist. Doch das vermeintlich einfache Loslassen ist für viele Menschen alles andere als einfach. Würden sie tatsächlich in der Lage sein, belastende Gedanken oder Verhaltensweisen loszulassen, hätten sie es längst getan.

Das Problem liegt darin, dass diese Verhaltensweisen oft tief in der Psyche verankerte Überlebensstrategien sind, die in der Kindheit notwendig waren, um emotionale und physische Sicherheit zu gewährleisten.

Ein Beispiel:

  • Das „nette Mädchen“-Syndrom: Ein Kind, das gelernt hat, immer freundlich, angepasst und unauffällig zu sein, um Liebe und Zuwendung zu bekommen, wird diese Strategie auch im Erwachsenenalter unbewusst fortführen. Obwohl sie heute keine existenzielle Notwendigkeit mehr hat, ist sie tief im Nervensystem und in den Denkmustern der Person verankert.

Solche Strategien laufen oft automatisiert ab und sind schwer zu durchbrechen. Kein Coach, der „Loslassen“ als Lösung propagiert, kann eine konkrete Methode anbieten, wie dies rational und dauerhaft gelingen soll. Hier braucht es tiefergehende Arbeit, die oft therapeutischer Natur ist.


Warum tiefgreifende Muster nicht durch Mindset-Arbeit geändert werden können

Die Neurowissenschaft zeigt uns, dass Verhaltensmuster und Überzeugungen nicht nur im Gehirn, sondern auch im Körper abgespeichert sind. Traumata, unsichere Bindungen oder wiederholte negative Erfahrungen beeinflussen die Funktionsweise des Nervensystems und bestimmen, wie Menschen auf Herausforderungen reagieren.

  • Dysreguliertes Nervensystem: Menschen mit traumatischen Erlebnissen oder unsicheren Bindungen befinden sich häufig in einem Zustand von Hyperarousal (Übererregung) oder Hypoarousal (Untererregung). In diesen Zuständen ist der Zugang zu den kognitiven Fähigkeiten, die für Lernen und Veränderung notwendig sind, stark eingeschränkt. Das Stammhirn und die Amygdala, die für Überlebensmechanismen zuständig sind, dominieren das Denken und Handeln.

  • Automatisierte Überlebensmuster: Diese Mechanismen wurden nicht bewusst gewählt, sondern sind das Ergebnis von Anpassungen an belastende Umstände. Sie haben der Person geholfen, in der Vergangenheit zu überleben, und werden deshalb weiterhin unbewusst aktiviert.

Mindset-Arbeit, die lediglich auf kognitive Veränderung abzielt, greift hier zu kurz. Solange die zugrundeliegenden Muster nicht erkannt und bearbeitet werden, bleibt echte Veränderung unerreichbar.


Die Rolle der Körpertherapie und Regulation

Nachhaltige Veränderung beginnt damit, das Nervensystem zu regulieren und emotionale Sicherheit zu schaffen. Erst wenn sich eine Person in einem Zustand der Regulation befindet, ist sie in der Lage, neue Denkweisen zu entwickeln und alte Muster loszulassen.

  • Selbstregulation und Containment: Methoden wie Atemübungen, achtsame Bewegung oder körpertherapeutische Ansätze können helfen, das Nervensystem zu stabilisieren und innere Sicherheit aufzubauen.

  • Verbindung von Kopf und Körper: Mindset-Arbeit allein kann keine tiefgreifenden Veränderungen herbeiführen, wenn die emotionale und körperliche Ebene unberücksichtigt bleibt. Ein integrativer Ansatz, der sowohl kognitive als auch körperliche Aspekte einbezieht, ist hier entscheidend.


Warum die Verantwortung nicht auf die Betroffenen abgewälzt werden darf

Ein weiteres Problem bei der Mindset-Arbeit ist die implizite Schuldzuweisung, wenn Veränderungen nicht gelingen. Aussagen wie „Du bist verantwortlich für dein Leben“ oder „Wenn du es nicht schaffst, liegt es an deinem Mindset“ sind problematisch, da sie die komplexen Zusammenhänge von individuellen und systemischen Faktoren ignorieren.

Diese Art von Täter-Opfer-Umkehr kann den Leidensdruck der Betroffenen zusätzlich erhöhen. Sie fühlen sich noch mehr belastet, wenn sie trotz aller Bemühungen keine Veränderung erreichen und daran zu scheitern scheinen.


Die Grenzen von Mindset-Arbeit erkennen

Mindset-Arbeit ist ein wertvolles Werkzeug, das bei vielen Themen helfen kann, aber es hat klare Grenzen:

  • Tiefgreifende Überlebensstrategien und automatisierte Muster lassen sich nicht durch kognitive Ansätze allein verändern.

  • Dysregulierte Nervensysteme benötigen spezifische therapeutische oder körperbasierte Ansätze, um in einen Zustand zu kommen, in dem Veränderung möglich ist.

  • Strukturelle Barrieren wie Armut, Diskriminierung oder fehlende Ressourcen erfordern gesellschaftliche Veränderungen, die über individuelles Mindset hinausgehen.

Wer Veränderungen anstrebt, muss diese Grenzen verstehen und einen ganzheitlichen Ansatz wählen, der psychologische, körperliche und systemische Aspekte berücksichtigt. Nur so kann echte Transformation gelingen, ohne den Druck auf die Betroffenen weiter zu erhöhen.


Kritische Auseinandersetzung mit der Coaching-Welt




Frau steht vor einer weißen Wand mit bunten Postit und hat einen Kaffe to go in der linken Hand

Die perfide Täter-Opfer-Umkehr in der Coaching-Szene

Viele Coaching-Programme werden mit großen Versprechungen verkauft: wissenschaftlich getestet, bewiesen, und angeblich für alle geeignet. Doch wenn ein solches Programm bei einer Person nicht den erhofften Erfolg bringt, wird die Verantwortung oft auf die Kund:innen selbst abgewälzt: „Du hast nicht genug daran geglaubt“, „Du hast nicht richtig an deinem Mindset gearbeitet“, oder „Du hattest zu wenig Vertrauen in das Programm.“

Diese Aussagen sind ein klassisches Beispiel für Täter-Opfer-Umkehr. Statt die Komplexität der Lebensrealitäten ihrer Klient:innen anzuerkennen, machen manche Coaches die Betroffenen verantwortlich – unabhängig von deren individuellen Prägungen, Traumata oder systemischen Herausforderungen.


Warum generische Programme nicht funktionieren können

Mindset-Arbeit ist hochgradig individuell. Zwar können generelle Ansätze und Übungen wie Visualisierungen oder Affirmationen erste Impulse geben, doch echte und nachhaltige Veränderungen erfordern eine tiefere, persönliche Auseinandersetzung.

Eine einzelne Problematik – etwa Schwierigkeiten, sich selbst zu vertrauen – kann aus ganz unterschiedlichen Quellen stammen:

  • Biografische Prägungen: Kindheitserfahrungen, die zur Entwicklung eines bestimmten Glaubenssatzes geführt haben, wie „Ich darf nicht glücklich sein, sonst passiert etwas Schlimmes.“

  • Traumatische Erlebnisse: Wiederholte negative Erfahrungen, die das Nervensystem dysregulieren und automatische Schutzmechanismen auslösen.

  • Emotionale Wunden: Unbearbeitete Verluste oder Konflikte, die sich auf die Fähigkeit auswirken, neue Denkmuster zu entwickeln.

  • Systemische Einflüsse: Soziale und strukturelle Barrieren, die bestimmte Lebenswege erschweren.

Ein generisches Programm kann diese individuellen Nuancen nicht berücksichtigen. Nachhaltige Mindset-Arbeit erfordert eine maßgeschneiderte Herangehensweise, die biografische, emotionale und systemische Faktoren einbezieht.


Die Verantwortung der Coaches: Fachwissen und Empathie

Die Arbeit mit Menschen erfordert nicht nur Einfühlungsvermögen, sondern auch ein solides Fachwissen. Viele Coaches jedoch verfügen nicht über ausreichende Kenntnisse, um mit den oft komplexen Herausforderungen ihrer Klient:innen umzugehen. Das führt dazu, dass sie die Verantwortung auf die Betroffenen abschieben, anstatt ihre Programme kritisch zu hinterfragen oder auf die individuellen Bedürfnisse einzugehen.

Ein Beispiel: Eine Person mit traumatischen Bindungserfahrungen wird durch Aussagen wie „Du bist schuld, dass es nicht funktioniert hat“ massiv getriggert. Für diese Person ist das Gefühl, nicht genug oder fehlerhaft zu sein, oft eine tiefe Wunde, die durch solche Aussagen weiter aufgerissen wird.


Die psychologische Gefahr für vulnerable Gruppen

Coaching-Programme ziehen häufig Menschen an, die verzweifelt sind und nach Lösungen suchen. Dazu gehören oft Personen mit unsicheren Bindungsstilen, traumatischen Erfahrungen oder einem geringen Selbstwertgefühl.

Für solche Menschen kann das Scheitern in einem Programm besonders schwerwiegende Folgen haben:

  • Verstärkter Selbstzweifel: „Ich bin der Fehler, bei allen anderen funktioniert es, nur bei mir nicht.“

  • Rückzug: Sie geben auf und ziehen sich von weiteren Hilfsangeboten zurück.

  • Vertiefung bestehender Wunden: Negative Glaubenssätze wie „Ich schaffe es nie“ oder „Ich bin nicht gut genug“ werden weiter verfestigt.

Statt Unterstützung zu erfahren, fühlen sich diese Menschen oft noch belasteter als zuvor.


Die Notwendigkeit von Standards in der Coaching-Szene

Coaching ist derzeit ein weitgehend unregulierter Markt. Jeder kann sich Coach nennen, unabhängig von Ausbildung oder Erfahrung. Dabei arbeiten Coaches häufig mit Menschen, die sich in sehr vulnerablen Lebenssituationen befinden – oft ohne zu erkennen, dass sie therapeutische Unterstützung benötigen.

Es braucht dringend professionelle Standards, die sicherstellen, dass Coaches:

  • Eine fundierte Ausbildung in Psychologie, Coaching-Techniken und Traumaverständnis haben.

  • Die Grenzen ihrer Kompetenz erkennen und bei Bedarf an Therapeut:innen oder andere Fachpersonen weiterverweisen.

  • Individuelle Programme anbieten können, die auf die spezifischen Bedürfnisse ihrer Klient:innen eingehen.


Verantwortung statt Schuldzuweisung

Die Coaching-Szene muss sich ihrer Verantwortung bewusst werden. Statt pauschale Programme mit universellen Lösungen anzubieten, sollten Coaches ihre Klient:innen als Individuen wahrnehmen und ihre Angebote entsprechend gestalten. Die Schuld für das Scheitern auf die Klient:innen abzuwälzen, ist nicht nur unethisch, sondern auch gefährlich, da es bestehende Verletzungen vertiefen kann.

Menschen suchen im Coaching nach Hilfe und Orientierung. Was sie stattdessen oft finden, ist ein System, das ihre Herausforderungen ignoriert und sie für den Misserfolg verantwortlich macht. Eine Veränderung in der Coaching-Welt ist dringend nötig – hin zu mehr Empathie, Fachwissen und echter Unterstützung.


Von Überlebensstrategien zu einem erfüllten Leben: Stärke erkennen, Ressourcen aufbauen




eine Frau liegt an einem Stein im Schatten und die Sonne scheint ihm ins Gesicht

Überlebensstrategien als Stärke, nicht Schwäche

Überlebensstrategien, die wir in der Kindheit entwickelt haben, sind keine Schwächen – sie sind Stärken. Sie haben uns ermöglicht, schwierige und oft überwältigende Situationen zu überstehen. Kinder, die in unsicheren oder gefährlichen Umfeldern aufwachsen, entwickeln Strategien, um sich selbst zu schützen und ihr Überleben zu sichern.

Ob durch das Zurückziehen in Fantasiewelten, Fawn responds das Anpassen / Unterwerfen an andere („nett sein“) oder das Unsichtbar machen – diese Mechanismen waren essenziell, um in der verletzlichsten Phase unseres Lebens zu bestehen.

Unser Gehirn und Nervensystem speichern diese Muster ab, um uns auch später in unsicheren Momenten schnell reagieren zu lassen.

Doch während diese Strategien früher notwendig waren, sind sie es heute oft nicht mehr. Als Erwachsene sind wir nicht mehr von anderen abhängig, um zu überleben. Wir können selbst für uns sorgen. Dennoch greifen wir unbewusst auf diese alten Mechanismen zurück, weil unser Nervensystem sie als sichere, bewährte Wege abgespeichert hat.


Dankbarkeit und Veränderung: Der Schlüssel zu Wachstum

Der erste Schritt zu einem erfüllteren Leben ist, diese Überlebensstrategien anzuerkennen und ihnen dankbar zu sein. Sie haben uns bis hierher gebracht und dafür gesorgt, dass wir schwierige Phasen überstanden haben. Aber der zweite, ebenso wichtige Schritt ist, zu erkennen, dass wir heute viele dieser Strategien nicht mehr brauchen.

Wir dürfen daran arbeiten, diese Muster in gesunde Strategien umzuwandeln – Strategien, die uns nicht mehr beschränken, sondern uns dabei unterstützen, ein freieres, sichereres Leben zu führen.

Dies erfordert:

  • Ein stabiles Nervensystem: Lernen, das eigene Nervensystem zu regulieren, sodass es nicht ständig Gefahr wittert.

  • Ein weites Stresstoleranzfenster: Die Fähigkeit, in herausfordernden Situationen ruhig und präsent zu bleiben.


Ressourcenaufbau als Basis für Veränderung

Eine der zentralen Möglichkeiten, Überlebensstrategien in gesunde Muster zu transformieren, liegt im Aufbau von Ressourcen. Ressourcen sind alles, was uns Stabilität, Sicherheit und Zuversicht gibt.

Sie lassen sich in drei Kategorien einteilen:

  1. Innere Ressourcen: Eigenschaften wie Mut, Selbstmitgefühl oder Achtsamkeit.

  2. Äußere Ressourcen: Dinge oder Orte, die uns Stabilität geben, z. B. ein Lieblingsplatz oder ein inspirierendes Buch.

  3. Beziehungsressourcen: Menschen und Tiere die uns unterstützen, wie Freunde, Familie oder Therapeut:innen.

Der Aufbau eines Potpourri an Ressourcen ist essenziell, um uns sicher und stabil zu fühlen. Erst wenn wir diese Grundlage haben, können wir uns mutig neuen Zielen zuwenden.


Kleine Schritte, große Veränderungen

Der Weg zu einem erfüllten Leben beginnt mit kleinen, realistischen Schritten. Statt große und überwältigende Ziele zu verfolgen, ist es effektiver, sich kleine Etappen zu setzen:

  • Einen kleinen Schritt in eine neue Richtung wagen und beobachten, wie sich das anfühlt.

  • Nach und nach neue Strategien ausprobieren und bestehende Muster hinterfragen.

Dieser Ansatz schafft nicht nur Erfolgserlebnisse, sondern stärkt auch das Vertrauen in die eigene Fähigkeit zur Veränderung und Selbstwirksamkeit.


Selbstakzeptanz und Selbstmitgefühl: Die Basis für ein erfülltes Leben

Neben dem Aufbau von Ressourcen ist die Entwicklung von Selbstakzeptanz und Selbstmitgefühl entscheidend. Das bedeutet, sich selbst so anzunehmen, wie man ist – mit allen Stärken und Schwächen.

Ein bewusster Blick auf das Geleistete kann helfen:

  • Wir haben überlebt.

  • Wir haben uns trotz schwieriger Umstände weiterentwickelt.

  • Wir haben Stärken und Ressourcen, die uns unterstützen.


Selbstmitgefühl ermöglicht es, sich selbst mit Milde zu betrachten und die eigenen Herausforderungen nicht als Versagen, sondern als Teil des Wachstumsprozesses zu sehen.


Stärke aus Überlebensstrategien schöpfen

Unsere Überlebensstrategien sind keine Schwäche, sondern die Grundlage, die uns bis heute getragen hat. Der Schlüssel zu einem erfüllten Leben liegt darin, diese Strategien zu würdigen, sie zu transformieren und durch den Aufbau von Ressourcen ein Fundament für Sicherheit und Wachstum zu schaffen.

Mit kleinen Schritten, realistischer Zielsetzung und der Entwicklung von Selbstakzeptanz können wir lernen, uns selbst als wertvoll zu sehen – genau so, wie wir sind.


Fazit: Mindset-Arbeit als Chance, aber keine universelle Lösung


Mindset-Arbeit ist zweifellos ein wertvolles Tool zur persönlichen Weiterentwicklung – wenn sie individuell gestaltet und realistisch angegangen wird. Doch ein generelles Programm, das für alle Menschen und Lebensrealitäten gleichermaßen passen soll, ist schlichtweg nicht ausreichend.

Es gibt großartige Coaches, die verantwortungsvoll arbeiten und individuelle Unterstützung bieten. Doch gerade weil der Coaching-Markt unreguliert ist, gibt es auch viele, die Schaden anrichten, indem sie pauschale Ansätze verkaufen und die Verantwortung für fehlende Ergebnisse auf die Teilnehmenden abwälzen. Diese Täter-Opfer-Umkehr ignoriert die Komplexität individueller Lebensrealitäten und verstärkt bestehende Selbstzweifel.


Ein wichtiger Schritt, bevor man in ein Programm investiert, ist, klug zu wählen:

  • Passt das Programm zu meinen Bedürfnissen, Überzeugungen und Werten?

  • Sind die Methoden für mich umsetzbar?

  • Wird Raum für individuelle Herausforderungen gegeben?


Stellt Fragen: Wie ist das Programm aufgebaut? Welche Techniken werden genutzt? Gibt es Einzelsessions, um auf persönliche Themen einzugehen? Ein gutes Programm mag teurer sein, doch es ist eine Investition in echte, nachhaltige Veränderungen, die den eigenen Bedürfnissen entspricht.


Zum Jahresende ist es auch eine wertvolle Übung, innezuhalten und sich zu fragen:

  • Was war gut?

  • Was lief schlecht?

  • Was möchte ich verändern?


Aus dieser Reflexion heraus lassen sich die richtigen Entscheidungen treffen, um passende Unterstützung zu finden.

Lass dich nicht von unrealistischen Versprechen blenden – Veränderung ist ein individueller Prozess, der Zeit, Geduld und die richtigen Tools erfordert. Nur so können wir die Entwicklung starten, die wirklich zu uns passt.

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